Wenn sonst nichts mehr geht:
Wie radikale Akzeptanz hilft, mit dieser Krise umzugehen
Die Krise bringt die Welt, wie wir sie bisher kannten, zum Stillstand und fühlt sich auch für mich ganz persönlich sehr bedrohlich an. Was hilft, damit umzugehen? Zunächst mal Disziplin: Ich gestalte ganz bewusst meinen Tag, gehe Dinge an, für die nie Zeit war und lerne die Bedeutung von Qualitätsjournalismus immer mehr zu schätzen.
Eine große Inspiration ist die Lehre des Neurologen und Psychiaters Viktor Frankl. Frankl hat vor mehr als 70 Jahren Antworten gegeben, die uns helfen können, mit der aktuellen Situation umzugehen.
Tag 6 im Lockdown und keiner weiß, wie lange das noch gehen wird. Die sonst so selbstverständliche Bewegungs- und Begegnungsfreiheit ist massiv eingeschränkt. Diesem sehr entschlossen wirkenden Virus ist es gelungen, die Welt zum Stillstand zu bringen. Viele meiner Aufträge für Trainings und Workshops wurden storniert bzw. aufgeschoben. Das fühlt sich als Selbstständige ziemlich bedrohlich an, denn da gibt es keinen Arbeitgeber, der noch Gehalt zahlt.
Qualitätsjournalismus war nie wertvoller als heute
Nachrichten und vor allem Talkshows vermeide ich inzwischen weiträumig, nachdem mich irgendein Virenexperte mit der Aussage, dass der Lockdown noch 18 Monate dauern könnte, sehr verschreckt hat und meine Zuversicht temporär deutlich trübte.
Nur den Newsletter der Süddeutschen Zeitung namens „Espresso“, den lese ich noch. Und den Podcast „Steingarts Morning Briefing“, den höre ich auch. Qualitätsjournalismus ist zentral in diesen Tagen.
Gebe dem Tag Struktur und wage Dich an Themen, für die nie Zeit war
Ich versuche, dem Tag weiterhin Struktur zu geben. Um 7.30 klingelt der Wecker, dann wird erstmal die Yogamatte ausgerollt. Intervallfasten verhindert vorerst die schlimmsten Auswirkungen der Bewegungseinschränkung auf die potentielle Bikinifigur, die wir dieses Jahr möglicherweise gar nicht brauchen. Das Home Schooling für den Erstklässler läuft einigermaßen. Er ist sicher der entspannteste Hausbewohner in dieser Zeit – von einem Kind kann man sich in Sachen Präsenz und Gelassenheit im Hier & Jetzt eine große Scheibe abschneiden. Meine Einzelcoachings finden Online statt, daher bin ich mindestens oberhalb der Tischkante noch passabel angezogen und gebe mich nicht gänzlich dem durchaus verführerischen Ganztags-Schlabberlook hin. Manche bleiben ja gleich Tag und Nacht im Pyjama – warum auch nicht? Den naheliegenden Wald durchquere ich täglich. Und: Ich werde jetzt endlich anfangen, meine neue Webpage zu bauen.
Warum die aktuelle Situation mit bestehendem Wissen und Erfahrung nicht zu erfassen ist
Was macht all das mit mir und was mache ich wiederum damit?
- Ich merke, dass alle Versuche meines Verstandes, dies alles verstehen, einordnen, kontrollieren, analysieren, projizieren zu wollen, zu nichts führen.
- Noch mehr darüber nachdenken und mit anderen darüber sprechen verwirrt mich, verstärkt meine Sorgen und erzeugt innere und zwischendurch auch äußere Konflikte. Es zeigt sich gerade allerorten, welche Sprengkraft das probate Verstandesmittel des „Rechthaben Wollens“ entwickeln kann.
- Noch mehr darüber von teilweise selbsternannten, teilweise sehr respektablen Experten zu hören und zu lesen – das bringt mich auch nicht weiter. Denn jede dieser Meinungen ist eine fragmentierte Sicht auf das Problem. Die verwendeten Zahlen, Argumente und Statistiken sind oft widersprüchlich, unvollständig und bilden bestenfalls eine Teilrealität ab. Auf Basis dieser Daten werden gerade politische Entscheidungen getroffen – das gleicht einer Fahrt durch dichten Nebel ohne verlässliche Navigation. Dadurch werden gerade ganze Gesellschaften lahmgelegt und die Wirtschaft abgewürgt.
- Dieses Phänomen ist im Essay „Der schwarze Schwan“ wunderbar beschrieben: Der Publizist und Börsenhändler Nassim Taleb „postuliert ein „triplet of opacity“, also eine Dreifaltigkeit des Missverstehens in Bezug auf die Geschichte und ihre Auswirkung auf die Gegenwart: 1. Die Illusion, gegenwärtige Ereignisse zu verstehen, 2. die retrospektive Verzerrung historischer Ereignisse und 3. die Überbewertung von Sachinformation, kombiniert mit einer Überbewertung der intellektuellen Elite.“ https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Schwarze_Schwan_(Nassim_Nicholas_Taleb)
Mein Fazit:
Diese neuartige Situation mit globaler Auswirkung auf alle Menschen ist weder mit bestehendem Wissen noch mit Erfahrungen aus der Vergangenheit zu erfassen oder gar zu lösen.
Radikale Akzeptanz und die Weisheit des Viktor Frankl.
Wenn Denken mir also gerade nicht weiterhilft, was dann?
- Vielleicht eine radikale Akzeptanz der Situation, denn nur was da sein darf, kann sich verändern.
- Vielleicht der Versuch der reinen Wahrnehmung dessen, was ist – jenseits von Denkfiltern, eigenen Vorstellungen und bewertenden Gedanken.
- Vielleicht eine Hingabe an das Bewusst-Sein im Hier und Jetzt, wofür sich der „Felt Sense“, also das Spürgefühl im Körper, hervorragend eignet: So ist es gerade für mich, und so fühlt sich der innere Widerstand in mir an. Oder die Angst und die Sorgen. Oder die Wut. So spüre ich das gerade in meinem Körper. Und wenn ich mit und bei dieser Empfindung bleiben kann, nicht ausweiche, nicht davor weglaufe und einfach atme und dem Gefühl erlaube, da zu sein, dann merke ich: Ja, ich HABE dieses Gefühl, manchmal hat dieses Gefühl mich auch voll im Griff, aber ich BIN nicht dieses Gefühl. Ich bin mehr als das. Dann kann ich wahrnehmen, daß sich da vielleicht sogar ein innerer, weiter Raum auftut, in dem ich wählen kann, wie ich mich zu der Situation stelle, welche Haltung ich dazu einnehme, welche Antwort ich darauf gebe – jenseits von automatisierten und konditionierten Gedanken und Verhaltensweisen. Viktor Frankl kann uns hier helfen:
„Die letzte der menschlichen Freiheiten
besteht in der Wahl der Einstellung zu den Dingen.“
Viktor Frankl
Er hat diese letzte Freiheit im Konzentrationslager in sich entdeckt. Er hat seine komplette Familie und seine Verlobte dort verloren. Er hat auf Basis dieser existenziellen Erfahrung sein zentrales Theorem entwickelt, die sogenannte „existenziellen Wende“:
„Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten — das Leben zu verantworten hat.“
Es ist also eine radikale Sichtumkehr: Weg von einer Anspruchs- und Erwartungshaltung an das Leben und was es zu bieten hat. Hin zu einer dialogischen Offenheit gegenüber den Anforderungen und Aufforderungen der jeweiligen Lebenssituation und zu einer reifen Verantwortungsübernahme, basierend auf einem tiefen Sinn- und Werteverständnis. (Buchempfehlung: Viktor E. Frankl: …trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (Taschenbuchausgabe). dtv, München 1982, ISBN 3-423-10023-0 (28. Auflage 2007, ISBN 978-3-423-30142-8))
Aus diesem Verständnis heraus könnte die Beschneidung der äußeren Freiheit ein Inkubator für die Kraft der inneren Freiheit werden. Und das wäre wiederum ein tröstlicher Gedanke.
#CoronaCrisis #ConfidenceInCrazyTimes